Mitglieder der AG Außen- und Sicherheitspolitik haben Putin-Russland nach den Kriterien von Umberto Eco’s „Urfaschismus“ untersucht. Das Ergebnis überrascht: unter der Anlegung objektiver Kriterien, deutet erstaunlich viel darauf hin, dass es sich bei Putin’s Russland um einen faschistisch geführten Staat handelt. Umberto Ecos umfangreiches Essay wurde mehrfach übersetzt, so auch ins Englische und Deutsche.
Unser Ziel ist es in den nächsten Wochen die einzelnen Punkte Umberto Ecos bei der Analyse von Putin-Russland anzuwenden. Für diesen Putin-Faschismus hat sich vor allem in Osteuropa und der Ukraine ein feststehender Ausdruck durchgesetzt: Ruschismus(Рашизм, von der NYT wurde dies mit ruscism übersetzt). Dieser Ausdruck wird im Folgenden dazu verwendet, die Regierungsform in Russland unter der aus über 2.000 Organisationen gebildeten Einheitspartei „Allrussischen Volksfront„1 Putins zu bezeichnen. Die Bildung derartiger Einheits- und Volksfronten wie der spanischen „Falange Española Tradicionalista y de las Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista“ (Spanische Traditionalistische Phalanx der Räte der Nationalsyndikalistischen Offensive) erfüllt dabei im Vorgriff schon Ecos 4. Punkt: „Kein synkretistischer Glaube kann analytischer Kritik widerstehen“.
Godwinleugnung
Der Kriegsgrundmythos der „Denazifikation“ wird von Putin wie seinen Lautsprechern als Kriegsgrund oder zumindest zur Delegitimierung ukrainischen Widerstandes verwendet. Um dem etwas entgegenzusetzen, ist eine sehr vorsichtige und enge Verwendung des Begriffs „Faschismus“, sowie auch sonst des „Nationalsozialismus“ bzw. die Bezeichnung „Nazi“ zwingend erforderlich. Es schließt sich aus, jetzt wild mit dem „Faschismus“-Begriff politisch unliebsame Menschen der AfDer oder Union zu bewerfen und durch diesen inflationären Gebrauch, dem Begriff jedwede Bedeutung zu rauben (sog. „Godwin-Leugnung„).
Eine Bagatellisierung des Begriffes „Nazi“ durch inflationären Gebrauch ist dabei in jedem Zusammenhang eine Geschmacklosigkeit gegenüber den Opfern des realen Nationalsozialismus – was leider wenige Leute abhält und so zum durch Godwinleugner vorsätzlich immer wieder gebrochenen „Godwin’s Law“ geführt hat.
Urfaschismus
Wir wollen den Ruschismus in Putin-Russland in mehreren Artikeln anhand dieser Kriterien analysieren. Eco schreibt in den Punkten 6 und 7:
- 6. Der Urfaschismus entstand aus individueller oder sozialer Frustration. Deshalb gehörte zu den typischen Merkmalen des historischen Faschismus der Appell an eine frustrierte Mittelklasse, eine Klasse, die unter einer ökonomischen Krise oder der Empfindung politischer Demütigung litt und sich vor dem Druck sozialer Gruppen von unten fürchtete. In unserer Zeit, da die alten „Proletarier“ zu Kleinbürgern werden (und die Lumpenproletarier von der politischen Szene weitgehend ausgeschlossen sind), wird der Faschismus von morgen sein Publikum in dieser neuen Mehrheit finden.
- 7. Den Menschen, die sich einer ausgeprägten sozialen Identität beraubt fühlen, spricht der Urfaschismus als einziges Privileg das häufigste zu: im selben Land geboren zu sein. Dies ist der Ursprung des Nationalismus. Außerdem bezieht eine Nation ihre Identität nur aus ihren Feinden. Daher liegt an der Wurzel der urfaschistischen Psychologie die Obsession einer Verschwörung, am besten einer internationalen Verschwörung. Die Anhänger müssen sich belagert fühlen. Am leichtesten lässt sich dieser Verschwörung mit einem Appell an den Fremdenhass begegnen. 2
Umberto Eco sieht demnach wirtschaftliche Krisen und einen Zusammenbruch durch disruptive Ereignisse als Nährboden für den Faschismus. Dieser Zusammenbruch schafft eine frustrierte Mittelschicht und normalerweise in Kombination mit Nationalismus Feindbilder.
Der Zusammenbruch als Grundlage für den Faschismus
Sowohl in Russland nach 1991, als auch in Deutchland nach 1918 gab es objektive Missstände, mit denen auch Bürger aus der Mitte der Gesellschaft angezogen werden konnten. Sie wurden ergänzt durch Verschwörungstheorien von vermeintlichen Motiven einer Vernichtung der eigenen Nation.
In den meisten Fällen – auf jeden Fall im Ruschismus und im deutschen Nationalsozialismus – waren dies zunächst äußere Feinde,3 namentlich die Entente in Deutschland und „der Westen“ in Russland. Erst sehr viel später kam in Deutschland – beginnend mit der Reichskristallnacht am 9. November 1938 aufbauend bis zur Wannseekonferenz am 20. Jänner 1942 – die systematische Vernichtung von als „Zigeuner“ verfolgten Menschen und Juden als inneren Feinden dazu – zur Porajmos und Schoah gibt es in Putin-Russland bisher keine Parallelen, sehr wohl aber zu einer Hinwendung zur russischen Ethnie (русский – russkij) statt dem gesamten „russländischen“ (российский – rossijskij) Volk gleich welcher Ethnie seit Beginn des Ukrainekrieges.
Der Nationalsozialismus konnte auf sehr konkrete Vorfälle in Folge der Versailler Konferenz – die Hyperinflation, die Besetzung des Rheinlandes, auch die besonders schwierige Lage in der Weltwirtschaftskrise – verweisen, deren Lösung der Nationalsozialismus versprach – und in der Tat auch brachte: Hitler nahm sich, was Stresemann in langen Verhandlungen mit Aristide Briand nicht erreicht hatte. In einem eindringlichen Brief an Briand sah Stresemann genau das auch voraus. Er schrieb, es gebe auch ein Warten, das zu lange dauere.
Damit kennen wir in Deutschland das Problem, dass nach fast genau 70-jährigem Kampf seit März 1848 eine Republik am 9. November 1918 ausgerufen wurde. Die Weimarer Reichsverfassung (WRF) übertrifft in Freiheiten und Rechten manchmal sogar das Grundgesetz. Dieser Optimismus in die Demokratie wurde in Deutschland durch die Versailler Konferenz und die Reparationszahlungen an die Entente abgewürgt.
Aderlass beim zusammengebrochenen Patienten
Dem steht in der jüngeren Geschichte der vollständige Zusammenbruch der Sowjetwirtschaft entgegen, wie er in der Form in keinem anderen Ostblockland stattfand. Alfred-Nobel-Reichsbankpreis-Träger Joseph Stiglitz führt aus4, wie dies durch den Washingtoner Konsens bedingt war, während Länder wie die Volksrepublik China diesen zurückwiesen und zunächst nur die Preise für Produktionen oberhalb des Planzieles freigaben, danach nach und nach die Preisbindung aufhoben. Der Volkswirtschaftler Jœri Schasfoort hat die sowjetischen/russischen „Stagnation Cycles“ in einem Video erklärt: Die Planwirtschaft kann nach einem Zusammenbruch (wie 1918 oder 1945) die Grundbedürfnisse schnell decken und eine grundlegende Infrastruktur aufbauen. Steht diese, verfällt die Wirtschaft aber in eine Stagnation, gefolgt von einer Inflation bis zum Zusammenbruch.
Der Washingtoner Konsens dagegen forderte eine vollständige Privatisierung – auch von Mitteln, die dringend benötigt wurden, um die für eine funktionierende Marktwirtschaft erforderliche Infrastruktur überhaupt wieder aufzubauen. Nach der Auflösung der Sowjetunion waren zusätzlich alle Lieferketten durch neue Grenzen durchbrochen, was jede vollintegrierte Wirtschaft vor Probleme stellt. Damit forderte der IWF von der Sowjetunion ausgerechnet zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt die vollständige Aufgabe der Planwirtschaft, die eben im und nach einem Zusammenbruch – auch wenn er durch sie selbst ausgelöst wurde – die beste Wirtschaftsform bis zum Erreichen eines Grundstockes an Infrastruktur ist. Wie der Arzt George Washingtons verordnete der IWF allen Sowjetrepubliken einen Aderlass beim zusammengebrochenen Patienten.
Eine Zeit der Gesetzlosigkeit und des Faustrechts folgte. In vielen Nachfolgestaaten, auch Russland wie der Ukraine, entwickelten sich Oligarchien. Den Zusammenbruch der Sowjetunion bezeichnete Putin 2005 als „die schlimmste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“.
Abgrenzung und eigene Überhöhung
Faschistische Ideologien versprechen die Wiederherstellung einer „alten Größe“ und schaffen eine entsprechende historische Grundlage für diese Ansätze. Auch Putin betätigt sich als Historiker, dies war auch bei der Rede zum Überfall auf die Ukraine ersichtlich. Deren Grundlage verbarg sich schon in den vor zwei Jahren veröffentlichten historischen Abhandlungen Putins. 5
In dieses Geschichts- und Politikbild werden Ziele eingeordnet. Für Ruschisten kündigte Januković 2014 nicht etwa das EU-Assoziierungsabkommen als Teil eines schleichenden Putsches in Richtung eines russischen Vasallenstaates, sondern die NATO verführte über 40 Millionen Bürger der Ukraine, gegen Januković zu „putschen“. Danach wurden nicht etwa Neuwahlen organisiert, aus denen Poroschenko als neuer Präsident hervorging, sondern die NATO setzte eine Marionette ein. Über die Abwahl Poroschenkos und Wahl des russischsprachigen jüdischen Zelensky geht die ruschistische Propaganda ganz weg.
Hat ein faschistischer Staat äußere Feindbilder etabliert, muss er sich den Prinzipien Ecos zufolge zwangsläufig aktiv verteidigen. Hitler nutzte dieses Element in seiner Rede im Reichstag zum Überfall auf Polen zu Kriegsbeginn. „Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“. Man wird selten einen faschistischen Staat finden, der einen Angriffskrieg nicht „zur Verteidigung“ begonnen hat.
Auch Putin begründet den Überfall auf die Ukraine mit dem äußeren Feindbild NATO und der Entnazifizierung der Ukraine, aber auch den anderen zuvor beschriebenen Elementen: Den Zusammenbruch der Sowjetunion, der Verweis auf die eigene historische Größe, und die eigenen historischen Ansprüche auf das Gebiet der Ukraine.
Damit passen für uns die hier beschriebenen Merkmale des Urfaschismus von Umberto Ecco, sowie auch einige andere (Punkt 8 und 14) perfekt auf die Situation in Russland. Zur Situation von Putin-Russland können auch klare Parallelen zu historischen Faschismen gezogen werden. Es werden nicht die letzten sein.
1 Nicht mit der „Volksfront von Allrussland“ oder der „Populären Front“ zu verwechseln.
3 Eco spricht nur von einer „ökonomischen Krise“, ohne dass diese von äußeren Akteuren ausgelöst sein muss. Tatsächlich gibt es Faschismen – wie Oswald Mosley’s British Union of Fascists (BUF) – die keinen äußeren Feind sehen.
NSdAP und austrofaschistischer Ständestaat konnten jedoch in ihren Ländern die Macht übernehmen, während die BUF immer eine Randerscheinung blieb.
4 Stiglitz, Joseph E.: Die Schatten der Globalisierung. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler, Berlin 2002, ISBN 3-88680-753-3; Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2002, ISBN 3-89331-466-0.
5 Siehe dazu https://www.br.de/kultur/gesellschaft/ukraine-putin-geschichtsrevisionismus-100.html und https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/wladimir-putin-und-das-geschichtsbild-russlands-16838462.html
Der zweite Teil ist unter https://aussenpolitik.piratenpartei.de/2022/06/22/ruschismus-teil-2-der-informationskrieg/ online.
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