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Belarus, die Ukraine und Russland aus Geopolitischer Perspektive 

Der Werkzeugkasten für hybride Konflikte

Working meeting in ATO zone. Photo by Roman Turovets

Ein Beitrag von Alexander Kohler & Schoresch Davoodi

Die Situation an der EU-Ostgrenze zu Belarus ist derzeit überall in den Medien und durchaus polarisierend. Wir sehen Menschen aus dem Nahen und Mittleren Osten die in die EU wollen, eingepfercht zwischen den Sicherheitskräften beider Grenzseiten. Dabei hatte der eigenwillige Diktator des Landes ja auch schon vor Monaten seine Pläne angekündigt.1

Natürlich wurde der Transfer dieser Menschen in Richtung Europa dann – wie angekündigt – staatlich abgestimmt. Neben den üblichen Visa Gebühren von 60 Euro und dem Flugticket wurden zusätzlich noch 3000 Euro fällig, dass Belarus den Transfer ‚unterstütze‘. Getarnt als Kaution werden so zusätzliche Abgaben für die staatliche Dienstleistung einbehalten.2  Mit dem Versprechen, auf diese Weise leichter in die EU einreisen zu können, wurden die meisten dieser Menschen angelockt. Neben Geflüchteten, die aus verständlichen Gründen aus ihrer Heimat aufbrachen,  von Lukaschenko als Einnahmequelle und Druckmittel gegen die EU missbraucht, werden natürlich auch handverlesene, kampferfahrene Akteure eingeflogen. Diese werden unter Anderem mit russischer Unterstützung auf ihre Rolle vorbereitet: Zielsetzung ist es möglicherweise, bewaffnete Zwischenfälle an der Grenze und fabrizieren und die entsprechenden Bilder zu erzeugen.

Aber dies sind nur singuläre Ereignisse, die erst aus der Gesamtperspektive betrachtet zum eigentlichen Bild zusammenwachsen. 3

Die Geopolitische Perspektive

Denn neben den Ereignissen an der Grenze zu Belarus gibt es auch andere Krisenherde in der Region, deren Ereignisse mit auch Einfluss auf die Krise in Belarus haben. Deshalb sollte man diese Ereignisse aus einer geopolitischen Sichtweise betrachten.

Was ist Geopolitik und wie agieren die einzelnen Akteure innerhalb des Rahmens ihrer Möglichkeiten? Mit der Entwicklung hin zu einer multipolaren Welt wird eine Faktenanalyse auf dieser Basis immer wichtiger. In der ursprünglichen Herangehensweise werden hier die beiden Disziplinen Geographie und Politik miteinander verbunden. Die Wissenschaftler, welche sich hauptsächlich mit dem Gebiet befasst und die dieses Wissenschaftsgebiet geprägt haben, wie Alfred Thayer Mahan, Karl Haushofer oder H. J. Mackinder, unterscheiden sich hier in der unterschiedlichen Gewichtung dieser beiden Gebiete, aber auch in der Theorie und der praktischen Anwendung.4

Für unsere Betrachtung der Situation ist es deshalb wichtig, zu begreifen, dass man einen multidimensionalen Ansatz bei der Analyse der Situation und den handelnden Akteuren haben muss. Deshalb ist es auch wichtig, sich bewusst zu machen, wer faktisch die Kontrolle über Belarus hat. Und das ist nun mal Russland. Und Russland hat seine ganz eigenen Interessen, die es zu analysieren gilt.

Nach den Aufständen gegen den autokratischen Herrscher des Landes Belarus, Aljaksandr Lukaschenko, war dieser gezwungen, weitreichende Zugeständnisse zu machen in der sich seit den 90ger Jahren hinziehenden Verschmelzung der beiden ungleichen Staaten. Seit Herbst 2021 besteht ein Abkommen, das faktisch einer Aufgabe der staatlichen Souveränität und dem Anschluss an Russland gleichkommt. Da fehlt im Grunde nur noch das Juwel der UDSSR Nachfolgestaaten: die Ukraine. 567

Welche Interessen hat nun Russland, das de facto die Kontrolle über Belarus und mit Lukaschenko einen veritablen Zündler bei der Hand hat, um diesen in einem geopolitischen Spiel zu nutzen? Eine wichtige Quelle für die geopolitische Grundhaltung Moskaus bildet die Erkenntnis, dass Carl Schmitts Theorien in den hohen Beraterkreisen Moskaus einen sehr hohen Stellenwert haben und sich faktisch von der in Deutschland vorherrschenden Denkweise unterscheiden. Dies kann man auch in der vom Raum her gedachten Vorgehensweise in der Ukraine und im Kaukasus erkennen, die in Deutschland nicht mehr im Trend ist.8

Ein weiteres Mosaiksteinchen wird erkennbar, wenn man sich bewusst macht, wie sehr die heutige russische Gesellschaft und insbesondere das Umfeld von Vladimir Putin vom Machtverlust nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geprägt war. Am 25. April 2005 bezeichnete der russische Präsident Vladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion in einer Rede als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“9

Geopolitische Instrumente

Um der „Geopolitischen Katastrophe“ zu begegnen, hat man natürlich auch einen reichhaltigen geopolitischen Werkzeugkasten entwickelt – und ist auch bereit diesen einzusetzen. Auch die Doktrin der hybriden Kriegsführung zeigt den übergreifenden Ansatz, ein weitgefächertes Instrumentarium zu nutzen. Dieses Zusammenwirken der verbundenen Kräfte – auch zeitlich miteinander abgestimmt – bildet die Grundlage für das weitere Vorgehen und ist äußerst effektiv. Im militärischen Bereich wurde das Konzept unter hybrider Kriegsführung bekannt.10

Das Vorgehen ist aber nicht nur auf militärische Operationen bezogen, sondern findet auch im gesamtstaatlichen geopolitischen Handeln in einer multipolaren Welt Anwendung. Man fühlt sich hier unwillkürlich in die Konflikte unter den Stadtstaaten der Renaissance zurückversetzt. Zur besseren Verständlichkeit gibt es auch wissenschaftliche Ansätze, welche hierbei Game of Thrones bemühen.11

Gehen wir jetzt einfach von der Zielsetzung aus, die Macht und Ausdehnung Russlands wieder an die der Sowjetunion oder des zaristischen Russlands anzunähern. Diesem Ziel ist Russland mit der Kontrolle über Belarus schon etwas näher gekommen, und die Abspaltung eines eigenständigen Belarus mit dem Ende der Sowjetunion ist quasi auch schon behoben. Natürlich nicht offiziell, denn man hat ja noch einen nicht anerkannten Präsidenten den man nutzen kann. Genüsslich konnte man zuletzt in Moskau, als Frau Merkel vorstellig wurde (ohne Abstimmung mit den unmittelbar betroffenen Nachbarstaaten versteht sich) und bat, Russland möge in Hinsicht auf die Geflüchteten and der Grenze auf Lukaschenko einzuwirken, vorgeblich kollegial antworten – ohne direkt in selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit zu kommen, und sich dabei königlich zu amüsieren. Aber dazu kommen wir später. Wunderbar kann man die Situation für eine weitere Stärkung der eigenen Position verwenden.

Bevor wir zu den genutzten Instrumenten kommen, die neben einem sehr aggressiven Sockenpuppendiktator existieren, schauen wir uns einmal die Grundlage für den Einsatz dieser Instrumente an.

Die eigene Situation und die Gegner

Grundlage für effektive Entscheidungen ist das Wissen um die Stärken und Schwächen seiner Gegner, genauso wie seiner eigenen. Denn ein wichtiger Part im geopolitischen Game of Thrones ist es, seinen Gegner auszumanövrieren. Und dazu muss man seinen Gegner ganz genau kennen, sowie sich selbst.

Die Gegner und Konkurrenten sind nunmal aus russischer Perspektive aktuell die westlichen Staaten. Eine starke, einige NATO sowie eine starke und geschlossen auftretende EU stehen einem wiedererstarken Russlands aus einer gewissen Sicht nun einmal entgegen. Zumal beide immer näher an Russland herangerückt sind. Mit anderen geopolitischen alten Kontrahenten wie China, mit dem man sich zu Sowjetunions-Glanzzeiten schon das ein oder andere militärische Gefecht geliefert hatte, kann man sich derzeit auch nicht zeitgleich befassen. Deswegen muss man an dieser Front wohl oder übel die Zähne zusammenbeißen und sich etwas zurücknehmen. China tut dies netterweise in Bezug auf Russland allerdings aus ähnlichen Gründen auch, mal abgesehen von dessen Ambitionen in Zentralasien. Dieser Herausforderung kann man sich erst widmen, wenn man sich in der für Russland wichtigsten Region – dem geopolitischen Schauplatz Europa – ausreichend konsolidiert hat.

Effektives handeln durch umfassende Analyse

Man schaut sich also die EU und NATO genauer an und analysiert die Entscheidungsfindung in Politik und Wirtschaft. Was man in den letzten Jahrzehnten ja ausgiebig machen konnte. Man hat sich lange mit den politischen Zielen, Denkschulen und Handlungsweisen der deutschen Entscheidungsträger und deren Beratern befasst und diese auch indirekt beeinflusst.12

Nun kann man auch die Schwächen vorgreifend und gezielt zur Durchsetzung der eigenen Interessen einsetzen. Denn nur eine bestens informierte Macht wird zur Großmacht. Denn nur diese kann man den alten Grundsatz anwenden: „Divide et impera“ (lateinisch für teile und herrsche). Insbesondere wenn um große Brocken wie EU und NATO geht – wenn der Brocken etwas größer ist als man selbst, ist diese Strategie insbesondere essenziell.

Langfristiges untergraben von Resilienz

Hat man sich nun die Netzwerke, Lobbyisten, Berater und Strukturen der Entscheidungsfindung in Legislative, Exekutive, Judikative, Wirtschaft, Presse und Öffentlichkeit, NGOs und Militär angeschaut, kann man das zur Verfügung stehende Instrumentarium nutzen. Beispielsweise kann man wissenschaftliche Denkschulen nutzen, die stark durch die Friedensbewegung beeinflusst wurden. Wenn es, wie aktuell, zu weltweiten Machtverschiebungen kommt – egal, die schnöde Praxis kratzt doch nicht an den jahrelang entwickelten Theorien des Friedens durch einseitiges Abrüsten. Mit anderen Worten, es ist der absolute Jackpot, wenn man zum Einen den „Teile und Herrsche“ Ansatz fährt, und zum Anderen die Kosten für die eigenen Handlungen reduzieren will. Da reicht für den erfahrenen Manipulator eine Trollfarm, die ihn öffentlich huldigt für seine praxisnahe Politik, und genügend produzierte Friedensforschungspapiere, die seine Thesen stützen. Dann fühlt er sich bestätigt und handelt mit voller Inbrunst dem hehren Ziel Weltfrieden entgegen.13

Der mediale Werkzeugkasten

Wenn man sich die Medienlandschaft (insbesondere die westliche) anschaut, merkt man schnell, dass diese im Umbruch ist. Dabei fällt insbesondere auf, dass auch Recherche und Qualität als Kostenfaktoren der Rationalisierung zum Opfer fallen. Einfache Geschichten im Relotius Stil, sowie nicht-klassische Medien haben die ursprüngliche Medienlandschaft ersetzt. Viele Nachrichten werden über Presseagenturen weit verbreitet – via derer mit Lobbyisten und Trollfarmen vergleichsweise günstig und unkontrolliert Einfluss genommen werden kann, um Themen zu setzen. Ab und an geht so etwas dann doch nach hinten los, wie im Falle der Impfgegnerunterstützung durch RussiaToday. Die impfkritische Meinung des Senders in Deutschland schwappte dann noch dummerweise zurück nach Russland, wo der Sender einen Pro-Impfung-Kurs fährt, um der eigenen Gesundheitskatastrophe zu begegnen.

Politische Filterbubbles als Vorteil begreifen

Man muss sich bewusst machen, dass auch politische Entscheidungsträger sich ein einer Filterbubble befinden, ähnlich vielleicht sogar der eines Kanals für Verschwörungstheoretiker. Dann kann es vorkommen, dass man sich nicht vor Ort informiert, sondern bewusst oder unbewusst desinformiert wird. Im Hinblick auf die Informationsflut mag das vielleicht ganz gut sein um nur die wesentlichen, relevanten Informationen zugetragen zu bekommen. Aber dies kann auch negative Auswirkungen haben und zu den falschen Entscheidungen führen. Deshalb ist diese Filterbubble ohne sie regelmäßig zu hinterfragen und neu und kritisch zu bewerten mit den richtigen Instrumenten auch sehr schön nutzbar für Imperiumsbuilding von bestimmter Seite. Schön zu sehen sind die Schwachstellen im aktuellen Krisenmanagement. Exemplarisch wurde das schon im Zusammenhang mit dem Afghanistaneinsatz.14

Wirtschaftliche Möglichkeiten ausspielen und langfristiges Denken

Ein weiteres Instrument im geopolitischen Werkzeugkasten stellt für Putin natürlich auch die Nutzung und der Aufbau wirtschaftlicher Machtpositionen dar. Man hat sich durch seine natürlichen Gasreserven in Europa eine marktbeherrschende Position sichern können. Dies kann man natürlich auch dafür nutzen sich ein „window of opportunity“ zu schaffen um seine Ziele umsetzen zu können. Auf dem Weg wurden einige Voraussetzungen geschaffen. Andere Gasproduzenten könnten auch den Gasbedarf Europas nicht decken oder wurden wie im Fall Iran auch dezent an andere Märkte verwiesen. Um den Gashebel wirksam nutzen zu können, braucht man zum einen eine extrem gute Marktposition die man sich ja auch erarbeitet hat. Zusätzlich hat man noch die Kontrolle über die wichtigsten Infrastrukturen wie Speicher und Pipelines übernommen, indem man sich die Marktregeln der EU und Deutschlands zu Nutze macht. Oder hat mit Pipelineprojekten wie beispielsweise Nord Stream 2 Möglichkeiten geschaffen über die Infrastruktur einzelne Länder auch physisch von Lieferungen abzuschneiden, um das alte Spiel von „Teile und Herrsche“ spielen zu können. Mit Kontrolle über Speicherkapazitäten kann man dafür sorgen damit das Opfer / Kontrahent die richtige Schockwirkung durch Gasmangel erleidet. Denn weil die Speicher leer sind, wenn man sie ausnahmsweise über den Sommer nicht aufgefüllt hat. Dafür muss man natürlich über ein umfangreiches Firmengeflecht verfügen, dass man gesamtstaatlich kontrolliert um die strengen Entbündelungsvorschriften von Markt und Infrastruktur umgehen zu können. Um beispielsweise Nord Stream durchzubringen und Polen und Osteuropa zu isolieren.15

Gleichzeitig kann man den unvorhergesehenen Preisanstieg durch gekonntes Spiel der wirtschaftlichen Klaviatur nutzen um sich zum einen durch Insiderwissen (Optionen auf Preisanstieg) und den steigenden Marktpreis wirtschaftlich zu sanieren. Man hat ja die letzten Jahrzehnte gedarbt und die Konkurrenz unterboten um sich in diese Position zu bringen. Gleichzeitig bietet sich hier natürlich auch ein zusätzliches Druckmittel das man einsetzen kann. Das Thema Rohstoffsicherheit wurde auch schon von China im Bereich seltener Erden eingesetzt.16

Eine wichtige Erkenntnis die hier Grundlage für eine Strategie der Einflussnahme auf wirtschaftlicher Ebene ist, der Gegner denkt kurzfristig – nicht langfristig und resilient. Er ist getrieben von Quartalsabschlüssen und Dividendenausschüttungen, man ist nicht interessiert am großen Ganzen. Die Senior Berater Ebene ist mit Outsourcing und ohne Lieferkettenprobleme groß geworden. Kritische Infrastrukturen sind Kostenfaktoren, Rohstoffunsicherheit existiert nicht, Lagerhaltung und Bevorratung ist teuer, genauso wie die heimische Produktion. Schon im Studium hat man das gelernt, eine andere Meinung gibt Punktabzug, da nur die Besten der Besten es im Beratungsbereich zu etwas bringen, setzt sich natürlich auch die gängige Lehre dann in den Unternehmen und auch auf staatlicher Ebene fort. Also kann man hier ganz wunderbar ansetzen, denn man kann faktisch schon von außen erkennen, wann die Entscheidungsträger ausgebildet wurden und dies für sich nutzen. In einem inzestuös elitären Umfeld sogar noch mehr, diese Erkenntnis ist natürlich auf für andere Bereiche anwendbar.

Nutzung von Ressentiments und Polarisierung

Ein weiteres Instrument um den alten Ansatz von „Teile und Herrsche“ zu nutzen, ist es bestehende Ressentiments zu nutzen. Wir sehen gerade eine tiefe Spaltung in westlichen Gesellschaften, insbesondere bei der aktuellen Corona Krise oder auch im amerikanischen Wahlkampf wurde dies immer stärker sichtbar. Eine geschwächte an Qualitätsverlust leidende Presselandschaft tut hier ihr Übriges oder die verstärkte Nutzung der social media Möglichkeiten um diese Effekte zu befeuern. Um einen Gegner zu schwächen, versucht man natürlich diese Effekte noch zu verstärken und unterstützt Protagonisten die hier besonders polarisieren. Wie würde man hier nun vorgehen sowohl in einer Gesellschaft als auch auf europäischer Ebene?

Zunächst das Vorgehen in einer Gesellschaft wie Deutschland. Wie würde ein Land wie Russland hier zum Beispiel hypothetisch vorgehen? Das Nawalny Video zu den finanziellen Verstrickungen Putins und seiner Compagnons, hat ja schon die intensiven Verbindungen zu Deutschland dargestellt. Wobei in dem Video dann doch die Verbindungen in Russland ausführlicher dargestellt wurden. Es lässt aber erahnen, wie groß diese Verflechtungen sein müssen und in welche politischen Kreise in Deutschland diese reichen müssen. Stellen wir uns einfach mal vor, man hätte über die Jahre diese Netzwerke aktiviert und ausgebaut, könnte auf ein solides Stasi- und DDR Netzwerk zugreifen. Dadurch hätte man ja theoretisch direkten und immensen Einfluss auf politische Entscheidungen in Deutschland.17 Um aber die Polarisierung voranzutreiben muss man sich auch politischer Extreme bedienen. Bei genauerem Hinsehen hier ist auffällig, dass sich sowohl linke als auch rechte Gruppierungen, die ja Antipole des jeweils anderen darstellen, eine ähnliche politische Haltung zu Russland und Putin aufweisen.18 Man lässt sich sowohl bei der Linken als auch bei der AfD zu besuchen der von Russland besetzten Krim bewegen und sich propagandistisch nutzen.19

In anderen Bereichen profitiert man aber durch die Polarisierung und die intensive Feindschaft zueinander. Diese Konstellation ist natürlich auch von außen betrachtet förderungswürdig. Theoretisch wäre es ja durchaus sinnvoll für jemanden, einfach mal beide zu fördern, denn Polarisierung bei einer gegnerischen Gesellschaft ist förderungswürdig und beide sind Putin-freundlich.2021

Auch Ereignisse wie belarussische Diktatoren und Flüchtlingsströme, die man während einer Pandemie so nach Europa schicken kann, würde diese Kräfte aus verschiedenen Gründen noch zusätzlich stärken.

Auf einer anderen Ebene, bieten sich insbesondere bei Bündnissystemen im zwischenstaatlichen Bereich weitere Spaltungsmöglichkeiten. Eine Regierung auf nationaler Ebene muss natürlich Erfolge erzielen und diese der Bevölkerung verkaufen. Da können natürlich Negativbeispiele in anderen Ländern politisch für die eigene Agenda genutzt werden. Andererseits ist man auch gezwungen Fehlentwicklungen von sich weg und in die Schuhe eines anderen zu schieben. Gleichzeitig gibt es natürlich auch historische Ressentiments zwischen den einzelnen Staaten innerhalb der EU und NATO. Natürlich wäre es vorteilhaft dies nutzen zu können.

Die aktuelle Krise in Belarus und der Ukraine zeigt deutlich wie man das ganze nutzen kann. Polen hatte – getrieben durch innerstaatliche Protagonisten – auf verschiedenen Ebenen Entscheidungen getroffen, die andere EU-Mitglieder negativ und den europäischen Werten entgegenstehend betrachten. Nun könnte man ja auch um sich im eigenen Land besser darstellen zu können auch in anderen Bereichen andere Positionen ergreifen als Polen und damit den tief verwurzelten Antislawismus zu unterstützen. In der Außen- und Sicherheitspolitik wäre so etwas natürlich ungut, sich im Vorgehen mit Polen und den baltischen Staaten gegenüber Russland und Belarus unabgestimmt zu verhalten. Wichtig wäre es natürlich auch für eine destruktive Strategie, dies noch zu fördern. Natürlich kann das durch provozierte Bilder mit Wasserwerfern und frierenden Flüchtlingen an der Grenze oder anderen Vorfällen passieren um insbesondere in Deutschland aufgrund solcher Bilder antipolnische Ressentiments zu erzeugen. Die Krönung wäre es, sollte die geschäftsführende Kanzlerin Merkel sich sogar über europäische Verbündete hinweg bilateral mit Lukaschenko unterhält und ihn damit als Gesprächspartner zu legitimiert, um dem erzeugten medialen Druck in Deutschland zu begegnen.

Militärische Optionen

In der jüngsten Vergangenheit Russlands kam es zu einigen Ereignissen in den es umgebenden Staaten, zu deren Reaktion Russland auch militärische Mittel eingesetzt hat. Dies geschah immer in einem Gesamtkonzept mit anderen Elementen, und auch immer dann, wenn sich ein „window of opportunity“ öffnete. Beispiele sind die Ukraine, Georgien und Armenien, und selbiges Vorgehen deutet sich auch wieder in der Ukraine an.22

Nehmen wir einmal an, nachdem man sich quasi die Kontrolle über Belarus gesichert hat, wäre das nächste Ziel um das Wiedererstarken Russlands voranzutreiben die Ukraine. Um alle Optionen nutzen zu können, inklusive großangelegter militärischer Optionen, ist es essenziell, EU und NATO zum Stillhalten zu bewegen oder deren Handlungsmöglichkeiten soweit einzuschränken, dass sie von einem Eingreifen absehen. Wäre es möglich, die EU und NATO-Staaten beispielsweise durch Gas- und Energieknappheit, interne Streitigkeiten und mediale Eingriffe zu spalten und zu erpressen, sähe man die Ukraine zunehmend isoliert und damit dieses „window of opportunity“ weit offen. Insbesondere, wenn man der Ukraine noch ein Nazi-Image geben kann, wäre es praktisch die Pflicht Russlands hier für Ordnung zu sorgen. Würden die Rahmenbedingungen stimmen, wäre auch ein neues großangelegtes militärisches Abenteuer in der Ukraine möglich.

Nutzung des Werkzeugkastens

Pikanterweise haben wir jetzt gerade so eine Situation. Wir haben eine Flüchtlingskrise an der Grenze zu Belarus. Eine Energiekriese, eine Pandemie, eine politische Übergangssituation in Deutschland und Vieles mehr. Diese Situation kann natürlich auch genutzt werden, um in diesem Windschatten Vorbereitungen für den Einsatz militärischer Mittel zu schaffen. Pikanterweise gibt es Warnungen von US-Seite, dass es zu einer russischen Invasion der Ukraine kommen könnte.23

Hier hat man ja schon im Laufe des Jahres die entsprechende Vorarbeit mit Truppenübungen geschaffen, während derer man erhebliche Mengen an Material aus allen Teilen Russlands zusammengezogen hat. So wurden im September zusammen mit Belarus Übungen abgehalten, an denen 200.000 Soldaten beteiligt waren. Was die größte Militärübung seit 40 Jahren auf europäischer Ebene war.24

Falls es nun zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen würde, kann man sich im politischen Berlin natürlich immer herausreden, man hätte die Entwicklung nicht kommen sehen.

Die europäische Komponente des Konflikts

Die Europäische Union und die europäische Idee an sich sind durch diesen Konflikt ebenfalls betroffen. Der Gasstreit mit Russland und der Konflikt an der Grenze zwischen Polen und Belarus zwingen die EU, Farbe und Gesicht zu zeigen. Die EU ist den gemeinschaftlichen Interessen aller EU-Mitgliedsländer und seinen einzelnen europäischen Bürgern verpflichtet. In einem solch elementaren Fall darf es keine Abstufungen zwischen den Interessen der Bürger der EU in „erster Klasse“ und „zweiter Klasse“ geben. Dies wäre politischer Sprengstoff durch die daraus folgende Legitimationskrise der EU, und stellt dadurch eine erhebliche Gefahr für die gemeinschaftliche europäische Idee, welche durch seine Bürger getragen wird, dar.

Die EU hat sich im „Vertrag von Lissabon“, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat, verpflichtet, dass ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat als Angriff auf alle EU-Staaten gesehen wird. Hier geht der europäische Vertrag in Artikel 42 Absatz 725 in seinen gemeinschaftlichen Schutzverpflichtungen weit über die Verpflichtungen der kollektiven Sicherheit hinaus im Vergleich zu dem, was der NATO-Vertrag von seinen Mitgliedsstaaten im Konfliktfall fordert.26

Dass die ehemalige Bundesregierung in der durch Belarus ausgelösten Krise an der polnischen Grenze bilateral mit Belarus kommuniziert hat, ist einerseits der Realpolitik geschuldet. Andererseits zeigt sich hier, wie schon Thomas Ney im April 2021 in Bezug auf die Ukraine feststellte,27 dass die EU heute – ähnlich wie schon vor einigen Monaten – hinsichtlich der Ukraine wieder einmal von Russland in seiner Handlungsfähigkeit getestet wird. Moskau will damals wie heute durch Druck austesten, ob es Paris und Berlin gegen Brüssel ausspielen und so Europa spalten kann.

Europäische Politik, die gemeinsame europäische Vision und das Bekenntnis zur Relevanz von europäischer und Außenpolitik hatten im kürzlich vergangen Bundestagswahlkampf keine Rolle gespielt. Das Fehlen einer europäischen Politik für die Zeit nach der Bundestagswahl und das aktuelle politische Vakuum haben so Moskau und Minsk ermutigt, verstärkt Berlin und Paris gegen Brüssel unter Druck zu setzen. Diese Gefahr hatte sich schon vor Monaten abgezeichnet,28 hatte jedoch in Deutschland im öffentlichen Bewusstsein bislang kaum eine Rolle gespielt.

Wir PIRATEN haben in unserem gemeinsamen europäischen Programm in der Präambel festgehalten, dass politischen Entscheidungen auf der europäischen Ebene europaweite öffentliche Debatten vorausgehen müssen, die es allen EU-Mitgliedern ermöglichen, ihren Positionen angemessen Ausdruck zu verleihen.29 Dies gilt klar auch für die Situation an der polnischen Grenze, wo Warschau, als auch die Baltischen Staaten durch das Verhalten von Belarus massiv unter politischen Druck gesetzt werden sollen.

Wie schon angemerkt sollen Nord Stream 2, als auch die durch Belarus ausgelöste Krise an der polnischen Grenze die EU-Mitgliedsländer und die europäischen Bürger selbst spalten. Hier wird insbesondere auch mit Bildern und anderen Mitteln daran gearbeitet, die Bürger der EU in verschiedene Lager zu polarisieren.30 So soll die gemeinsame Resilienz in Deutschland, als auch in Europa mithilfe verschiedener Bausteine untergraben werden. Die aktuellen Ereignisse sind nur die Fortführung einer Strategie, welche seit einigen Jahren gegen die EU und die Gesellschaften in ihren Mitgliedsländern gefahren wird.31 Die Europäische Union beschuldigt den belarussischen Machthaber Lukaschenko, in organisierter Form Migranten aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen, um Druck auf den Westen auszuüben. Lukaschenko sagte gegenüber dem britischen Fernsehsender BBC, dass es „absolut möglich“ sei, dass belarussische Streitkräfte den Migranten bei der Einreise in die EU geholfen hätten. Er bestritt jedoch, die Operation organisiert zu haben.32

Die Propaganda und der Informationskrieg der Bilder sollen die EU zwingen, die Kontrolle – und die Staatsgewalt generell – über ihre Außengrenzen aufzugeben. Eine EU, welche hier handlungsunfähig wird, würde damit auch auf allen anderen Feldern nicht mehr in der Lage sein, politisch zu agieren. Es wäre damit ein Ende der EU wie wir sie heute kennen. Die Konsequenzen wären fatal für ganz Europa.

Dass es sich um eine rein symbolische und politische Aktion handelt, die von Minsk mit Deckung aus Moskau gegen Brüssel geführt wird,33 kann man daran festmachen, dass es nur eine kleine Anzahl von Menschen betrifft. Durch geschickte mediale Propaganda und Darstellung sollen hier Erinnerungen in der europäischen Öffentlichkeit an die Krise 2014/15 geweckt werden. Auch damals hatte die Türkei, als auch Russland verschiedene Instrumente aus dem politischen Werkzeugkasten bedient, um die Bevölkerung in den einzelnen europäischen Staaten zu polarisieren und den Eindruck zu erwecken, dass Europa hilflos sei.34 So sollte insgesamt das Vertrauen in die demokratischen Institutionen und Prozesse der Union als auch ihrer Mitgliedsländer untergraben werden. Ähnliches kann man aktuell, in 2021, sehen, während die europäischen Regierungen und die Union durch ihre Reaktion auf die aktuelle Coronapandemie zusätzlich unter Druck sind. Doch der belarussische Machthaber hat in der EU statt Chaos Solidarität hervorgerufen, analysiert Politologin Marie Mendras in Le Monde am 17. November 2021.35 So sagt sie:

„Die Europäer erweisen sich untereinander solidarisch. EU und Nato organisieren Antworten, umgehen aber die Falle einer militärischen Eskalation. Die dringendste Aufgabe ist, den von Stacheldrahtzäunen umschlossenen Menschen zu helfen und sie zu befreien. Anschließend müssen Debatten über einen europäischen Mechanismus zum Umgang mit dem Asylrecht starten. Die Abschreckung durch eine drohende große Destabilisierung ist im Begriff zu scheitern. Der von Lukaschenka entfachte Migrationsbrand wird von den Europäern gelöscht, nicht von Russland.“36

In der dänischen Zeitung Berlingske bewertete Kristian Mouritzen am gleichen Tag, die Situation ähnlich wie in Le Monde.37

„Nun ist es an uns, Solidarität mit Polen zu zeigen, zunächst in Form der beschlossenen Sanktionen gegenüber Belarus, später gern auch gegenüber Putin, falls sich Russland direkter einmischt. […] Dies dürfte auch wichtige Signale an die Adresse der Türkei senden, nicht mit dem Feuer zu spielen.“38

Es ist ein wichtiges Signal, dass in vielen europäischen Staaten diese Versuche von Seiten Minsks und Moskaus als das bewertet und dargestellt werden, was sie sind: Ein durchschaubarer Versuch, Europa zu spalten und zu schwächen. Doch darf man davon ausgehen, dass Moskau und Minsk in Europa und gerade in Deutschland durch ihnen (indirekt) nahestehende Gruppen weiter versuchen werden, durch genannte und weitere ähnliche Fälle Spannungen und Spaltungen in den jeweiligen europäischen Gesellschaften zu erzeugen. Hier gilt es, als individuelle Bürger wachsam zu bleiben und klar zu machen, dass unsere Werte zwar Solidarität und Hilfe für Menschen in Not beinhalten – aber auch klare Linien gezogen werden, wenn diese Menschen in Not, wie im aktuellen Fall durch den Machthaber in Minsk, von fremden Nationen für deren ganz eigene Zwecke ausgenutzt werden sollen. Doch dürfen wir darüber hinaus auch die Menschen in Belarus nicht vergessen. Auch die dortige, europäische Gesellschaft ist auch Teil des gemeinsamen Europa und des gemeinsamen europäischen Versprechens. Dass die mutigen Menschen in Belarus ihre Zukunft als Teil der EU und des gemeinsamen Europas sehen und 2020 dafür auf die Straße gingen, zeigt umso mehr, dass die EU sich nicht von der Regierung in Minsk einschüchtern lassen darf – sondern vielmehr Solidarität mit den Menschen in Belarus, genauso wie den Menschen im Baltikum und Polen zeigen muss. Denn diese sind ein Teil von Europa, und es gilt:

„Politischen Entscheidungen auf europäischer Ebene müssen europaweite Debatten vorausgehen, an denen sich alle Menschen angemessen beteiligen können. Ohne gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Kommunikation wird es diese angemessene Beteiligung nicht geben, und damit auch keine sachgerechten Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls.”39

Nur so kommen wir unserem Ziel einer gemeinsamen europäischen Republik näher. Nur so kann die Zukunft Europas nicht an den Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten, sondern an den gemeinsamen Interessen aller Menschen in Europa ausgerichtet werden.40

 

 

Dies ist ein Meinungsbeitrag der Themenbeauftragten für Außen und Sicherheitspolitik & Europapolitik und keine offizielle Parteimeinung