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Indien und China, wirklich nur ein Grenzkonflikt?

Dieser Beitrag ist eine Position der Arbeitsgemeinschaft und keine offizielle Parteimeinung.

In den vergangenen Wochen kam es entlang der chinesisch-indischen Grenze in der Himalaya-Region mehrfach zu Zusammenstößen zwischen den Soldaten der beiden konkurrierenden Staaten. Den bisherigen Höhepunkt erreichte der Konflikt Anfang dieser Woche, welcher 20 indische und (nach unbestätigten Berichten) 41 chinesische Soldaten nach einem Schlagabtausch das Leben kostete.

Doch woher kommt das plötzlich gewaltsame Aufflammen des schon seit Jahrzehnten währenden Territorialkonflikts? Zum einen spielt sicherlich Chinas neuerwachtes Selbstverständnis einer unabhängigen und starken Weltmacht eine Rolle. Ein Ziel, auf welches das Reich der Mitte seit Jahren planvoll hinarbeitet. Zum anderen wird dies aber auch durch rein pragmatische Überlegungen gestützt werden: Ein Reich das einen Führungsanspruch hat, muss diesen auch durchsetzen können, frei nach Mao Tse-Tung: „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“

Betrachtet man nun jene Gewehrläufe, also die PLA (People Liberation Army), so stellt man schnell fest, wie massiv diese in den letzten 20 Jahren aufgerüstet und vor allem modernisiert wurde. Mit einem offiziellen Jahreshaushalt von ca. 260 Milliarden US-Dollar im Jahr 2019 hat China Russland längst auf dem zweiten Platz abgelöst. Zum Vergleich: Deutschland und Frankreich gaben 2019 etwa 50 Milliarden für ihr Militär aus [1]. Doch genau hier liegt das Problem begraben: Vieles von dem Geld wurde in chinesische Eigenentwicklungen investiert, basierend auf russischer und westlicher Technik. Eine Erprobung unter realen Gefechtsbedingungen war bisher nicht möglich und auch die wenigen Waffensysteme, welche in Drittländer exportiert wurden, haben noch keinen harten Einsatz gesehen. Eine Einschätzung, wie schlagkräftig die neuentwickelten Kampfpanzer und Flugzeuge wirklich sind, können selbst chinesische Militärs bisher nur auf dem Papier machen.  Doch nicht nur die Militärtechnik ist noch unerprobt, auch die Soldaten selbst verfügen fast ausschließlich über keinerlei Gefechtserfahrung. Aufgrund des (mittlerweile überholten) chinesischen Credos, sich nicht in Angelegenheiten außerhalb der eigenen Grenzen einzumischen, waren deren Militärangehörige lange Zeit auch nicht in UN-Missionen vertreten. Die Errichtung des Militärlagers in Dschibuti sowie die wachsende Bereitschaft zur Beteiligung an diversen UNPKO (United Nations Peacekeeping Operations) – wie beispielsweise im Kongo, Sudan und zuletzt Mali – sollten auch als Schritt gesehen werden, diesem Mangel an Kampferfahrung zu begegnen. Es ist davon auszugehen, dass weitere Missionen mit robusteren Mandaten folgen werden. Doch eine Verlegung von Personal und Material nach Afrika ist kostspielig und nur begrenzt möglich; eine Einschränkung welche für einen Grenzkonflikt mit Indien nur bedingt gilt und nebenher noch weitere Vorteile bietet:

  1. Der grundsätzliche Anspruch auf die fraglichen Territorien wird nochmals unterstrichen
  2. Es können deutlich mehr Soldaten Einsatzerfahrung sammeln und lernen. Durch kurze Nachschubwege kann zudem häufiger und schneller rotiert werden.
  3. Auch die Waffensysteme können an einem technologisch fortschrittlichen Gegner unter Gefechtsbedingungen erprobt werden.
  4. Es ist ein reales Einsatzszenario, d.h. Kenntnisse zu Gelände, gegnerische Taktiken, Reaktionszeiten und Abwehrmaßnahmen (besonders EloKa und Luftraumüberwachung) könnten sich später als sehr wertvoll erweisen.
  5. Der Konflikt ist in seiner Ausdehnung und Intensität kontrollierbar:
    • Indien hat kein Interesse an einer militärischen Auseinandersetzung mit China und gilt außenpolitisch als gut einschätzbar – nicht zuletzt auch wegen des demokratischen Systems, welches Entscheidungswege und Meinungshoheiten deutlich transparenter abbildet.
    • Die beiderseitigen Atomwaffen verhindern eine Eskalation (Erst-/Zweitschlag) [2].
    • In einem konventionellen Konflikt sollte das chinesische Militär überlegen sein [3].
  6. Auch innenpolitisch kann China profitieren. So lenkt das Zeigen von außenpolitischer Stärke von den inneren Problemen wie beispielsweise der Coronakrise ab.

Also alles nur eine Übung für die chinesischen Streitkräfte? Mitnichten. Es könnte sich trotz allem als ein Spiel mit dem Feuer erweisen; so fielen die jüngsten Reaktionen der indischen Öffentlichkeit ungewohnt aggressiv aus und der Ruf nach Vergeltung war unüberhörbar. Sicher ist jedoch, dass China sich mehr und mehr auf Kampfeinsätze und internationale Machtdemonstrationen fokussiert. Dies könnte der letzte Schritt sein, bevor die Streitkräfte in „richtige“ Einsätze geschickt werden. Also auch die Zeit des schlafenden Drachen sich dem Ende neigt. Und das sollte nicht nur Taiwan beunruhigen.

 

[1] Zahlen: SIPRI, Military expenditure 2019
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_peace
[3] Siehe dazu auch SIPRI: Armament and disarmament

2 comments on “Indien und China, wirklich nur ein Grenzkonflikt?

  1. Manuel Feldmann

    Guter Text. Ich denke, dass gerade der Aspekt der Nuklearisierung einen grossen konventionellen Konflikt erneut verhindern wuerde. 👍

  2. Enavigo

    Klar geht es bei Grenzen wie dieser, von den Briten gezogenen Grenzlinie, seit Jahren darum Macht und Stärke zu zeigen. Wie bei jeder Grenze die mehr oder weniger willkürlich gezogen wurde.
    Mich wundert eigentlich, dass es hier seit 1962 keine größeren Gewaltkonflikte gegeben hat. Dies zeigt entgegen den obigen Meinungen, dass eigentlich beide Seiten keinen Sinn in einer kriegerischen Auseinandersetzung sehen.
    Zu erkennen ist dies auch darin, dass beide Seiten von einer „Schlägerei“ berichten, nicht von einer Auseinandersetzung mit militärischen Waffen.

    Ich sehe zwischen China und Indien ein ganz anderes Problem, und dies ein ein wirtschaftliches. Indien gerät immer mehr in die wirtschaftliche Abhängigkeit von China, die Corona Pandemie wird dies noch massiv verstärken. Damit wird China noch mehr von Indien partizipieren können.
    Und warum sollte China einen Krieg beginnen?
    Sie würden damit das RCEP aufs Spiel setzen. Und diese größte Freihandelszone der Welt ist für China ein 6er im Lotto mit Zusatzzahl.
    Und da ist es aus chinesischer Sicht egal ob Indien ein Mitglied wird oder nicht.
    Aus Indiens Sicht sieht dies völlig anders aus – sie müssen mitmachen wenn sie nicht ins Abseits geraten wollen.

    Also mit diesem „Grenzkonflikt“ China als Kriegstreiber zu sehen, ist schon sehr gewagt.
    Die allgemeine Aufrüstung in China kann man gerne als Problem bezeichnen. Anders herum, welche Großmacht rüstet nicht auf?
    SIPRI:
    „Weltweit wird immer mehr Geld in Rüstung gesteckt. An der Spitze stehen laut SIPRI-Bericht weiterhin die USA und China. Keines der führenden 15 Länder hat aber seine Militärausgaben prozentual so stark erhöht wie Deutschland.“

    Gegen wen planen wir einen Krieg, sollte sich Polen oder Frankreich Gedanken machen? (Frei nach dem letzten Satz des Berichts)

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