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Wie der russische Überfall auf die Ukraine die Sicherheitsarchitektur in Europa verändert

Am 27.02.2022 sprach Bundeskanzler Olaf Scholz im Deutschen Bundestag von einer „Zeitenwende“.  Diese betreffe nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, stellte der Bundeskanzler zutreffend fest. Knapp ein halbes Jahr später stellt sich allerdings die Frage, wie die Welt danach aussehen wird und welche Rolle die Bundesrepublik in dieser veränderten Welt einnehmen wird.

Bereits mit dem Beitritt der ostmittel- und südosteuropäischen Länder sowohl zur Europäischen Union als auch zur NATO hat sich die Ausrichtung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verändert. In Erfahrung der beschränkten Handlungsfähigkeit der EU suchten vor allem jene Länder, die sich aus historischen Gründen von Russland bedroht sahen, sicherheitspolitisch eine enge Anbindung an die USA. Die aktuelle Kriegssituation hat diese Position noch einmal merklich verstärkt und dürfte auch langfristig zu einer grundlegenden Verlagerung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik führen. Sowohl Berlin und Paris als auch die Europäische Union insgesamt drohen – unabhängig vom Ausgang des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine – zu Verlierern dieser Verschiebung zu werden, wenn sie ihre Handlungsfähigkeit nicht über bloße Worte und Ankündigungen hinaus unter Beweis stellen können.

Zwar erwähnte Scholz in seiner „Zeitenwende“-Rede die Sorgen der mittel- und osteuropäischen Alliierten und versicherte, Deutschland werde den solidarischen Beitrag leisten, der für die Sicherung des Friedens in Europa benötigt werde. Knapp sechs Monate später stellt sich jedoch die Frage, worin dieser solidarische Beitrag konkret besteht. Immerhin beteiligt sich die Bundeswehr an der Stärkung der NATO-Ostflanke im Rahmen der Enhanced Forward Presence, u. A. mit der Führung eines Gefechtsverbandes in Litauen oder der Luftraumüberwachung über dem Baltikum. In Warschau, Vilnius, Riga und Tallinn bleibt die Skepsis aber hoch. So hat man dort ungeachtet der Versicherung des Bundeskanzlers, man werde „jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes […] verteidigen“, kaum den Eindruck, es handle sich hierbei um eine deutsche Herzensangelegenheit. Unvergessen ist die Gleichgültigkeit, mit der die Bedenken der Balten und Polen in Bezug auf die Gaspipelines Northstream 1 und 2 und eine steigende Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieträgern in Berlin von wechselnden Bundesregierungen beiseite gewischt wurden. Auch die geopolitische Dimension des deutschen Atomausstieges wird im politischen Berlin noch immer weitestgehend geleugnet. Und noch immer stoßen vitale Sicherheitsbedenken der osteuropäischen Partner in Berlin auf weitestgehend taube Ohren. Auf den Punkt brachte dieses Gefühl Mitte Mai der lettische Verteidigungsminister und stellvertretende Ministerpräsident Artis Pabriks: „The trust to Germans is coming very close to zero“.

In Ostmitteleuropa betrachtet man den russischen Überfall auf die Ukraine als Bedrohung für den gesamten postsowjetischen Raum und befürchtet zugleich, dass Berlin den Krieg lediglich als Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine betrachte und im Zweifel einen Ausgleich mit Moskau zulasten Kyjiws anstreben werde. Während beispielsweise Boris Johnson (der sich in der Ukraine den Spitznamen „Johnsonyuk“ erworben hat) klar aussprach, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen müsse, klammert sich Bundeskanzler Olaf Scholz bis heute an die nichtssagende Formel, dass Putin nicht gewinnen dürfe und die Ukraine bestehen müsse. Das alles nährt den Verdacht, die Bundesrepublik stünde irgendwo zwischen den Stühlen und behalte sich alle Optionen offen.

Besonders kritisiert wird die zurückhaltende, als zögerlich empfundene Haltung der Bundesregierung in Bezug auf eine entschiedene militärische Unterstützung der Ukraine. In Mittelosteuropa fürchtet man die deutsche Passivität mehr, als die deutsche Führung, wie Polens damaliger Außenminister Sikorski schon vor über zehn Jahren feststellte. Während die USA und Großbritannien die Ukraine bereits vor dem neuerlichen russischen Überfall mit Waffen und Ausbildungsmissionen unterstützten und Polen und Balten in den ersten Kriegstagen lieferten, was nur irgendwie möglich war, blieb die Bundesregierung lange passiv und betrachtete bereits die Zusage einer Lieferung von 5000 Gefechtshelmen als substanziellen Beitrag. Selbst die Lieferung estnischer Geschütze aus alten NVA-Beständen wurde vom Kanzleramt blockiert. Die deutsche Blockadehaltung beschränkt sich indes nicht nur auf den militärischen Bereich. Auch bei anderen Sanktionen, wie dem Ausschluss sämtlicher russischer Banken vom SWIFT-System stand Deutschland immer wieder auf der Bremse und setzte weitreichende Ausnahmen durch. Aktuell wird ein Aussetzen von Touristenvisa in den Schengenraum für russische Bürger diskutiert. Polen, Tschechien, die baltischen Staaten, Finnland, Dänemark und die Slowakei befürworten diesen Schritt; Berlin und Paris sind dagegen. Die Worte und Taten des Bundeskanzlers klaffen weit auseinander, auch wenn inzwischen die ersten schweren Waffen aus Deutschland in der Ukraine angekommen und im Einsatz sind.

Gleichwohl zeichnet sich bereits heute ab, dass die westlichen Staaten nicht umhinkommen werden, der Ukraine mittelfristig auch Panzer und anderes schweres Gerät aus westlicher Produktion liefern zu müssen – sofern sie ihre vollmundigen Versprechen ernst nehmen. Deutschland – immerhin viertgrößte Waffenschmiede der Welt – kommt hierbei eine besondere Verantwortung zu. Auf den Höfen der hiesigen Industrie stehen hunderte ausrangierte Panzer und Schützenpanzer, die schon längst hätten hergerichtet und in die Ukraine geliefert werden können. Doch Berlin trug stets eine neue Begründung vor, warum eine Lieferung nicht erfolgen könne – und erweckte damit den Eindruck, man wolle gar nicht liefern. Stattdessen klammert sich die Bundesregierung noch immer an einen vermeintlich schnelleren Ringtausch, im Zuge dessen bisher jedoch noch kein einziger deutscher Panzer geliefert wurde. In Warschau, wo man sich anscheinend darauf verlassen hatte, dass Deutschland es mit seinen Zusagen ernst meine und man sich über die genauen Modalitäten im Nachgang schon noch einigen werde, spricht man offen von Täuschung und Betrug. Dieses Urteil mag hart und nicht gänzlich gerechtfertigt sein. Fakt ist jedoch, dass die Bundesrepublik den Ereignissen stets hinterherläuft und des Öfteren grundlos Positionen bezog, von denen bereits im Vorfeld klar war, dass man sie mittelfristig werde räumen müssen. So fragte der Politikwissenschaftler Carlo Masala nicht ohne Grund: „Aber warum zur Hölle immer auf den letzten Drücker? Warum nicht einmal vor die Welle kommen?“

Dieser Eindruck wird bleiben. Gewinnt die Ukraine den Krieg, was letztlich nur bedeutet, dass sie ihre territoriale Integrität (zumindest im Bestand von Februar 2022) bewahren kann, so wird man Deutschland angesichts der bisherigen Unterstützung vermutlich keinen großen Anteil daran beimessen. Verliert die Ukraine jedoch und muss dauerhaft weitere Gebiete an die russischen Besatzer abgeben, so wird man hieran der unzureichenden deutschen Unterstützung auch über die Ukraine hinaus eine Mitschuld geben.

Der Grund der deutschen Zurückhaltung ist indes nicht nachvollziehbar. Eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland – politisch wie wirtschaftlich – wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Insbesondere die Abkehr der europäischen Wirtschaft vom russischen Markt und russischen Energieimporten ist irreversibel. Selbst wenn die Achse Paris-Berlin eine erneute Annäherung an Russland anstreben würde, brächte sie hierfür nicht mehr genug Gewicht auf die Waage. Zu groß sind die tektonischen Verschiebungen innerhalb der Europäischen Union. Die südost-, ostmittel- und nordeuropäischen Länder dürften ihre Sicherheit künftig eher mit Hilfe der Briten und Amerikaner, als der Deutschen und Franzosen organisieren. Zu groß ist auch die Befürchtung, dass man sich auf Berlin und Paris im Zweifel nicht verlassen könne. Man täte in Berlin gut daran, dies nicht als kurzzeitige Verstimmung abzutun, sondern die Sorgen der Länder in der unmittelbaren Nähe Russlands endlich ernst zu nehmen und den deutschen Sonderweg beenden.

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